Städte stehen heute vor einer doppelten Herausforderung: dem Klimawandel mit zunehmenden Hitzewellen und Extremwetterereignissen sowie dem rapiden Verlust der Biodiversität. In diesem Kontext rücken Gebäude selbst in den Fokus – nicht nur als Teil des Problems (z. B. durch Wärmeabstrahlung und Flächenversiegelung sondern auch als potenzieller Teil der Lösung.
Paradoxerweise können Städte auch Refugien sein, da hier oft weniger Pestizide eingesetzt werden als in der Agrarlandschaft. Fassadenbegrünungen bieten die Chance, diese positiven Aspekte zu nutzen und gezielt neue Lebensräume in die Vertikale zu bringen.
Grüne Fassaden als vertikale Ökosysteme: Mehr als nur Grün
Fassadenbegrünungen sind weit mehr als nur eine optische Aufwertung. Eine biodiversitätsfördernde Grünfassade unterscheidet sich grundlegend von rein ästhetisch motivierten Bepflanzungen. Statt weniger, oft nicht-heimischer oder gefüllter (und damit für Bestäuber wertloser) Pflanzenarten, setzt sie auf Vielfalt und ökologische Funktion. Der Ansatz ist, gezielt Lebensräume für bestimmte Zielartengruppen zu schaffen, insbesondere für solche, die im urbanen Raum gefährdet sind.
Das Herzstück: Gezielte Pflanzenauswahl für die lokale Fauna
Die Auswahl der Pflanzen ist der entscheidende Faktor für den ökologischen Erfolg:
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Heimische Vielfalt als Basis: Heimische Pflanzen und Tiere haben sich über Jahrtausende gemeinsam entwickelt und sind oft eng voneinander abhängig. Viele Wildbienenarten sind beispielsweise auf Pollen bestimmter heimischer Pflanzenfamilien oder -gattungen spezialisiert (oligolektisch). Eine hohe Diversität heimischer Wildpflanzen bildet daher die Nahrungsgrundlage für eine vielfältige lokale Fauna.
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Nahrung für Wildbienen und andere Bestäuber: Um möglichst viele Wildbienenarten anzusprechen, ist eine heterogene Pflanzenauswahl mit unterschiedlichen Blütenformen (z. B. Korbblütler, Lippenblütler, Glockenblumen) und einem durchgehenden Blühangebot von Frühjahr bis Herbst essenziell. Dabei sind ungefüllte Blüten, die Pollen und Nektar zugänglich machen, unverzichtbar. Pflanzen wie der Echte Beinwell (Symphytum officinale) oder der Hornklee (Lotus corniculatus) sind wertvoll für Generalisten und Spezialisten. Der "Wildbienenscore" kann bei der Auswahl helfen.
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Lebensraum und Nahrung für Vögel: Eine Mischung aus verschiedenen Blattgrößen, -strukturen und Wuchsformen schafft dichte Bereiche, die Vögeln wie Amsel, Grünfink oder Haussperling Nistmöglichkeiten bieten. Sträucher und Stauden liefern Nahrung in Form von Beeren (z. B. die Altersform des Efeus, Hedera helix 'Arborescens') und Samen (z. B. Disteln). Efeu ist besonders wertvoll, da er spät im Jahr blüht (wichtig für Bienen wie die Efeu-Seidenbiene) und seine Beeren eine wichtige Winternahrung für Vögel darstellen.
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Indirekte Förderung von Fledermäusen: Fledermäuse profitieren nicht direkt von den Pflanzen, sondern von den Insekten, die sie anlocken. Nachtblühende oder stark duftende, nektarreiche heimische Pflanzen wie Dost (Origanum vulgare) oder Nachtkerzen (Oenothera) ziehen Nachtfalter an – eine Hauptnahrungsquelle für viele Fledermausarten.
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Akzeptanz von Spontanvegetation: Viele als "Unkraut" bezeichnete Wildpflanzen, die sich von selbst ansiedeln (Spontanvegetation), sind ökologisch sehr wertvoll und perfekt an den Standort angepasst. Arten wie Löwenzahn, Brennnessel oder Gänsedistel können das Nahrungsangebot erweitern und sollten, solange sie die Zielpflanzung nicht verdrängen und nicht invasiv sind, toleriert und in das Pflegekonzept integriert werden
Strukturvielfalt durch integrierte Habitate
Neben der Bepflanzung können künstliche Nisthilfen und Habitatstrukturen die ökologische Funktion der Grünfassade erweitern. Entscheidend ist hierbei jedoch die Qualität und die richtige Platzierung:
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Qualität vor Quantität: Viele kommerzielle "Insektenhotels" sind schlecht konzipiert und können schädlich sein (z. B. durch ungeeignete Materialien, falsche Lochgrößen, Splittergefahr). Fachgerecht gebaute Nisthilfen aus unbehandeltem Hartholz, markhaltigen Stängeln oder Lehm sind essenziell.
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Mikroklima beachten: Nistkästen für Vögel oder Fledermäuse können sich an sonnenexponierten Fassaden stark aufheizen, was für den Nachwuchs tödlich sein kann. Eine umgebende Pflanzenschicht kann die Temperaturen deutlich puffern. Mehrere Kästen an unterschiedlichen Expositionen können Ausweichmöglichkeiten bieten. Wildbienenhabitate benötigen hingegen viel Sonne, aber Schutz vor Regen und Feuchtigkeit. Gute Durchlüftung ist generell wichtig, um Schimmelbildung zu vermeiden.
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Lebensraumansprüche berücksichtigen: Eine Nisthilfe allein nützt nichts. Im nahen Umkreis müssen auch passende Nahrungsquellen und ggf. Baumaterialien (Lehm, Sand, Pflanzenwolle) vorhanden sein, da viele Arten, insbesondere Wildbienen, nur einen kleinen Aktionsradius haben.
Pflege im Rhythmus der Natur
Eine biodiversitätsfördernde Pflege unterscheidet sich von der konventionellen Grünpflege:
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Weniger ist mehr: Statt häufigem Komplettschnitt wird nur ein- bis zweimal jährlich und abschnittsweise zurückgeschnitten, um Tieren Rückzugsbereiche zu lassen.
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Strukturen belassen: Abgestorbene Pflanzenteile und Samenstände werden über den Winter stehen gelassen. Sie dienen als Überwinterungsquartier für Insekten und als Nahrungsquelle für Vögel.
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Timing ist entscheidend: Schnittmaßnahmen müssen auf Brutzeiten von Vögeln und die Aktivitäts- und Entwicklungszyklen von Insekten abgestimmt werden, was Flexibilität erfordert.
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Herausforderungen: Zielkonflikte (z. B. Schutz überwinternder Insekten vs. frühe Vogelbruten), Brandschutzaspekte bei trockenem Material und die Steuerung der Spontanvegetation erfordern Fachwissen und sorgfältige Beobachtung.